Weltweit sind aktuell mindestens 200 Millionen Mädchen und Frauen in mehr als 30 Ländern von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen. Weitere 3,9 Millionen Mädchen jährlich gelten als gefährdet.
Auf dem afrikanischen Kontinent ist die Praktik der Genitalverstümmelung am weitesten verbreitet. Sie wird dort in 29 Ländern praktiziert. Das Vorkommen variiert stark innerhalb von Regionen und Ländern und wird dabei v.a. von der ethnischen Zugehörigkeit bestimmt. Die Prävalenzraten betragen je nach Land weit über 90 Prozent (z.B. in Ägypten, Djibouti, Guinea und Somalia). Auch wenn in einigen Ländern die Gesamtprävalenz gering ist, so ist FGM in den Gebieten, in denen es praktiziert wird, flächendeckend (z.B. Ghana, wo vier Prozent aller Frauen verstümmelt sind, aber weit mehr als 40 Prozent der Frauen in einigen nördlichen Gebieten des Landes).
Auch in Ländern des Mittleren Ostens und Asiens (u.a. im Jemen und Irak, in Indonesien, Indien und Pakistan) wird FGM praktiziert. Über das Ausmaß der Verbreitung von FGM in Asien ist weniger bekannt als über die Situation in Afrika. Durch Migration aus Prävalenzländern ist FGM auch in Europa, USA, Kanada und Australien verbreitet.
In der Regel wird der Eingriff bei Mädchen im Alter zwischen 0 und 15 Jahren vorgenommen, oft bereits im Alter von wenigen Tagen und seltener bei erwachsenen Frauen. In zahlreichen Ethnien findet die Praxis im Rahmen von Initiationsriten statt, dann i.d.R. im Alter von zwölf bis 14 Jahren. Die Infibulation wird meist früher vorgenommen, im Alter von vier bis acht Jahren. Mehrheitlich sind die Mädchen, die eine Form von FGM erfahren, zwischen vier und zwölf Jahre alt.
Das Alter der Mädchen ist regional unterschiedlich, insgesamt jedoch tendenziell sinkend. Das kann daran liegen, dass die Praktik ihre Bedeutung als Initiationsritual verliert, Verstöße gegen Gesetze vertuscht oder Widerstände der betroffenen Mädchen umgangen werden sollen. Zum Teil kommt es auch zu Zweitbeschneidungen, d.h. Frauen werden vor der Ehe erneut beschnitten oder bei der Geburt de- und danach reinfibuliert.
Die weibliche Genitalverstümmelung ist eine gesellschaftlich tief verankerte Praktik, die Ausdruck patriarchaler Macht- und Gewaltstrukturen ist und vielfach als soziale Norm oder religiöses Gebot angesehen wird.
Die Begründungen für Genitalverstümmelung unterscheiden sich in den verschiedenen praktizierenden Gemeinschaften.
Regelmäßig jedoch wird FGM mit dem Respekt vor Traditionen und dem Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit gerechtfertigt. Die Betroffenen und deren Familien gehen davon aus, dass die Verstümmelung gesellschaftliche und reproduktive Vorteile bringe. Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern und Generationen tragen entscheidend zur Beibehaltung der Praktik bei. FGM ist eine grausame Folge der strukturellen Ungleichbehandlung der Frau und manifestiert die tiefverwurzelte Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit der Geschlechter. Den unterschiedlichen Begründungen liegt häufig implizit die gesellschaftliche Definition von weiblicher Sexualität und Identität innerhalb patriarchalischer Strukturen zugrunde. In einigen Ländern wird die Praktik von den Befürworter*innen zudem als religiöse Pflicht verstanden, auch wenn Religionsvertreter*innen aller Religionen die weibliche Genitalverstümmelung als Verletzung der Würde der betroffenen Mädchen ächten.
Angemessen im Umgang mit Betroffenen ist jedoch die Bezeichnung „Beschneidung“ (Englisch: cutting oder circumcision, Französisch: excision). Viele betroffene Frauen fühlen sich nicht verstümmelt und möchten auch nicht als verstümmelt wahrgenommen werden. Sie fühlen sich dadurch stigmatisiert. In Gesprächen ist zu erfassen, mit welchen Begrifflichkeiten Betroffene sich selbst wohlfühlen. Dies kann unterschiedlich sein und evtl. auch einen Hinweis darauf geben, wie die Frau selbst zur Praktik und deren Auswirkungen steht.
In den Materialien für die Fortbildungsveranstaltungen dieses Projektes wird der Begriff weibliche Genitalverstümmelung (FGM) verwendet.
Meist wird FGM von traditionellen Beschneiderinnen (häufig alte Frauen, z.T. Hebammen) ohne Betäubung und mit Hilfsmitteln wie Messern, Glasscherben oder Rasierklingen praktiziert. In einigen Regionen wird die Beschneidung in Krankenhäusern durch Gesundheitspersonal vorgenommen (Medikalisierung der Genitalverstümmelung). Das erweckt zu Unrecht den Anschein eines normalen Eingriffs und eines reduzierten Gesundheitsrisikos und verstößt gegen die ärztliche Ethik, wie sie in der Helsinki Erklärung von 1964 des Weltärztebundes verankert ist. FGM bleibt immer ein schwerer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit von Frauen und Mädchen.
Die gesundheitlichen Folgen von FGM sind weitreichend. Etwa 25 Prozent der betroffenen Mädchen und Frauen sterben entweder während der Genitalverstümmelung oder an deren Folgen. Die Mädchen erleiden extreme Schmerzen. Zu den teils irreversiblen und langfristigen gesundheitlichen Folgen zählen Infektionen, schwere Schädigungen der reproduktiven und sexuellen Gesundheit, chronische Schmerzen, schwere Geburtskomplikationen und erhöhte Infektionsgefahr für HIV. Die Gefahr der Mütter- und Kindersterblichkeit ist deutlich erhöht. Auswirkungen auf die psychische Gesundheit durch Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen sind gravierend.
Die Konsequenzen für die Sexualität der betroffenen Frauen reichen von einer Reduzierung, bis zum Verlust des sexuellen Empfindens.
Mit den physischen und psychischen Beschwerden gehen auch soziale Folgen für die Betroffenen einher, zum Beispiel wenn sie häufig den Unterricht versäumen oder die Schule abbrechen. Eine fehlende Schulbildung verringert die Chance auf materielle Unabhängigkeit vom Vater oder Ehemann, gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben. Sie begünstigt auch frühe, bzw. Zwangsehen und zu frühe Schwangerschaften, die wiederum individuelle und gesellschaftliche Auswirkungen haben. Auch können die gesundheitlichen Symptome und durch FGM verursachte Unfruchtbarkeit dazu führen, dass die jungen Frauen von ihren Familien verstoßen werden. Ein Zusammenhang zwischen den Problemen und der Genitalverstümmelung wird häufig nicht gesehen.
2013 wurde FGM in den medizinischen Diagnoseschlüssel aufgenommen. Durch die Auflistung der vier von der Weltgesundheitsorganisation klassifizierten Formen von FGM unter den Kennziffern N N90.8 und Z91.70-74 im ICD-10-DE können Ärzt*innen gegenüber der Krankenkasse genau angeben, wenn eine zurückliegende Genitalverstümmelung die aktuelle Behandlung beeinflusst. Auch die Kosten für eine Rekonstruktion können, falls eine Krankenversicherung vorhanden ist, übernommen werden. Die in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen obligatorischen medizinischen Vorsorgeuntersuchungen für Kinder (U-Untersuchungen) beziehen nach geltendem Recht (§26 SGB V) nur zum Teil die weiblichen Genitalien mit ein.
Für Ärzt*innen gibt es die „Empfehlungen zum Umgang mit Patientinnen nach weiblicher Genitalverstümmelung (female genital mutilation (FGM)“ der Bundesärztekammer, die 2016 aktualisiert wurden. Link zum Dokument
Laut den Empfehlungen zum Umgang mit Patientinnen nach weiblicher Genitalverstümmelung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe von 2013 gilt es vor allem im Bereich der Gynäkologie und Geburtshilfe gemeinsam mit den Betroffenen individuelle Lösungen bei Beschwerden, während der Schwangerschaft und bei der Geburt zu finden. Für eine adäquate Behandlung der von FGM betroffenen Patientinnen bedarf es medizinischen Personals, das über die Praktik informiert und für den Umgang mit Betroffenen sensibilisiert ist. Insbesondere infibulierte Frauen und Mädchen bedürfen einer besonderen ärztlichen und psychosozialen Beratung und Betreuung. Nach der Entbindung darf laut Bundesärztekammer kein Genitalverschluss vorgenommen werden. Wird trotz Aufklärung die Wiederherstellung, also die Infibulation, verlangt, muss die Ärztin/der Arzt die Behandlung ablehnen. Link zum Dokument
Zum 1. Januar 2020 ist die Studien- und Prüfungsverordnung für Hebammen in Kraft getreten. Sie berücksichtigt erstmalig die besonderen Belange von Frauen, die von einer weiblichen Genitalverstümmelung betroffen sind.
Für Pflegekräfte hat der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe 2008 eine Broschüre „Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen – Hintergründe und Hilfestellung für professionell Pflegende“ herausgegeben. Link zum Dokument
Es gibt Ärzt*innen in Deutschland, die plastische Wiederherstellungschirurgie ausüben, was die Folgen von FGM mildern kann, auch wenn ein vollständiges Rückgängigmachen nicht möglich ist. Dr. med. Dan mon O’Dey ist Spezialist für plastische und ästhetische Chirurgie. Er entwickelte ein spezielles Verfahren (aOAP Lappenplastik), um auf natürliche Weise die äußeren Genitalien wiederherzustellen. Dr. O´Dey arbeitet im Luisenhospital in Aachen.
Das Desert Flower-Center im Krankenhaus Waldfriede in Berlin bietet plastische Wiederherstellungschirurgie an. Frauen erhalten dort auch psychosoziale Betreuung. Das komplette Behandlungsangebot ist kostenfrei.
FIDE AG e.V. – Frauengesundheit in der Entwicklungszusammenarbeit bietet praktische Schulungen für medizinisches Personal an. Dr. med. C. Zerm ist ein erfahrener Gynäkologe im Bereich FGM und bietet gemeinsam mit stop mutilation e.V. eine monatliche Sprechstunde für Betroffene an: Sprechstunde vereinbaren.
Eine Liste mit fachkundigen Ärzt*innen kann bei den lokalen Beratungsstellen erfragt werden.
Weibliche Genitalverstümmelung hat kurz- und langfristig schwere körperliche, psychische, sexuelle und reproduktive Folgen für Mädchen und Frauen. Dem Gesundheitspersonal kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Zur Verbesserung der medizinisch-therapeutischen Versorgung von betroffenen Mädchen und Frauen ist die Sensibilisierung, Aus- und Fortbildung innerhalb der Ärzteschaft, auch von Hebammen, Urolog*innen, Psycholog*innen und Pfleger*innen relevant.
Laut Pressemitteilung des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ) vom 25.06.2020 sind in Deutschland knapp 68.000 Frauen und Mädchen von FGM betroffen. Die Zahl der weiblichen Genitalverstümmelungen in Deutschland sei in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen, hat eine neue Untersuchung ergeben. Die Erhebung wurde im Auftrag des Bundesfamilienministeriums nach einer von dem Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen entwickelten Methodik erstellt.
Im Vergleich zu den im Februar 2017 vom BMFSFJ veröffentlichten Zahlen ist das ein Anstieg von 44%. Die meisten betroffenen Frauen stammen aus Eritrea, Somalia, Indonesien, Ägypten und Nigeria.
Die deutliche Steigerung der Zahl der betroffenen und gefährdeten Frauen und Mädchen ist auf die Migration von Menschen aus Herkunftsländern zurückzuführen, in denen weibliche Genitalverstümmelung praktiziert wird.
Auch bei den Minderjährigen sind die Zahlen erschreckend hoch: Zwischen 2.810 und 14.880 Mädchen sind in Deutschland von weiblicher Genitalverstümmelung bedroht. Im Vergleich zu 2017 ist das ein Anstieg um bis zu 162 %. Mädchen aus den Herkunftsländern Somalia, Eritrea, Ägypten, Nigeria und Irak sind dabei zahlenmäßig besonders in Gefahr. Die beiden sich stark unterscheidenden Zahlen liegen darin begründet, dass zwei verschiedene Szenarien berechnet wurden: Im Minimalszenario wird davon ausgegangen, dass in der zweiten Generation keine weiblichen Genitalverstümmelungen mehr durchgeführt werden. Beim Maximalszenario wurde angenommen, dass auch in der zweiten Generation weibliche Genitalbeschneidungen durchgeführt werden.
TERRE DES FEMMES gibt seit 1998 eine eigene Hochrechnung der von FGM betroffenen und gefährdeten Mädchen und Frauen in Deutschland heraus. Datengrundlage sind die Angaben des Statistischen Bundesamtes zu Frauen und Mädchen mit nichtdeutscher Staatsbürgerschaft sowie die von UNICEF, dem Population Reference Bureau und Amnesty International verbreiteten Betroffenenquoten aus den bereits erforschten Prävalenzländern.
2018 sind die Daten erstmals nach Bundesländern aufgeschlüsselt. Zur Statistik
Demzufolge sind in Hessen aktuell über 3.000 Mädchen gefährdet und über 12.000 Frauen von FGM betroffen.